Wer der Wille sich zu vorstellen, Sprache kann stimmlos vorgehen, psychisch ermangelnd, ist …
@pnin,
ich verstehe schon, dass Leute in deinem hörenden Bekanntenkreis die Bedeutung von ’stumm’ nur auf den Nichtgebrauch der Stimmbänder und Lautsprache beschränkt wissen und daher das Wort nicht auf den Nichtgebrauch der Hände und Gebärdensprache ausweiten. Es ist auch kein Wunder, dass in deutschen Wörterbüchern nur die audistischen Definitionen von Nichtgebrauch des Sprechens/der Lautsprache oder der Stimmbänder und als Synonyme ’lautlos’, ‘schweigend’ und ‘still’ stehen. Aber es steht dort auch ’Sprachlosigkeit’ als Synonym für ’Stummheit’. Auch bei den Gebrüdern Grimm! (“psychisch redeunfähig”, “sprachlos vor Erregung”).
Diese Haltung rührt auch daher, dass hörende Leute gewöhnlich sich von “Sprache” nur als “Lautsprache” und diese als das Hauptmedium der Kommunikation vorstellen. Im Unterbewusstsein denken sie auch, dass alle nicht dumme Menschen eine Sprache haben müssten. Daher verstehen sie ’sprachlos’ nur im übertragenen Sinn von “entsetzt”, nicht wörtlich als “einer Sprache nicht habend”. Sie kennen halt nichts anders. Also sie beschränken ’Sprache’ semantisch nur auf “Lautsprache”. Oft wird sogar ’Sprache’ synonymisch statt ’Sprechen’ gesetzt. Gebärdende taube Menschen sieht man ja nur sehr selten. Wenn Hörende dann diese sehen, sprechen sie von ’gestikulieren’. Oralistische Pädagogen und Mediziner traten dann auf und behaupteten als “Experten”, dass die Sprache der Hände (oder “Sprache der Taubstummen”) keine Sprache sei und dass sie weiterhin stumm seien und führten den Begriff ’taubstumm’ ein.
Also ist die semantische Einschränkung von ’Sprache’, ‘stumm’ auf “Lautsprache” und auf Stimme und Gehör oder gar “Sprache gleich Sprechen” eine Reflektion des noch unaufgeklärten Wissens vieler Benutzer deutscher Sprache. Es darf geändert werden und zwar in die Richtung, “Als Sprache gilt auch Gebärdensprache”, “GS wird auch gesprochen”, “Kommunikation ist wichtiger als (vokales) Sprechen” und zuletzt “’stumm’, ‘schweigen’ und ‘sprachlos’ betreffen auch GS” usw. Sprachen ändern sich fortlaufend, folgend dem Geist der Zeit. Diese Wandlung des Denkens oder der Mentalität ist wichtig für die Integration und Emanzipation tauber Menschen in die Gesellschaft. Das gleich abfällig als Politisch-Korrektsein abzutun, lässt sich auf Unwillen, diese Änderung der Mentalität zu fördern, vermuten.
Ich glaube, Pnins Vorwurf von “politisch korrekt” zu verstehen, wenn man an die verschrobenen Umschreibungen denkt. Die “Sprachreform”, die ich aufzeige, sind weit davon entfernt. Es wird keine Umschreibungen vorgeschlagen oder nach Euphemismen der Wörter gesucht, die audistisch gebraucht werden. Es wird nur appelliert, Wörter, wie ’Sprache’, ‘sprechen’, ‘stumm’, ‘schweigen’ usw., nicht mehr zu eng an LS zu binden, sondern generell auch auf GS auszuweiten. Es wird für keine Bedeutungsänderung plädiert. Die Wörter werden schon im erweitertem Sinn gebraucht, wie anzeigt in ”stumm vor Schrecken”, “stumme Zeugen”, dein Satz oben “Stumm hörte ich mir die Rede an”, “sprechende bzw. schweigende Hände” usw. Diese Ausdrücke lassen sich auch für GS anwenden. Nur erlauben wir uns die Wörter im schon praktizierenden erweiterten Sinn häufiger zu verwenden und wir behalten uns das Recht vor, deren semantische Einschränkung auf das Akustische abzulehnen. Diese semantische Loslösung von der Akustik bei diesen Wörtern und sprachlich im abstrakten Sinn zu handeln sind keine Verarmung und Verballhornung der Sprache, sondern Humanisierung. Keine Rede von “Korsettierung der Sprache”, weil ja kein externes Korsett vorgeschlagen wird!
Du hast nur diese eine Grimm’sche Definition herausgeholt. Bei Grimm stehen viele andere Definitionen, die den Nichtgebrauch der GS betreffen können (warum nicht?!). Sogar die von dir eingebrachte sowie auch die moderne von DWDS "ohne sich lautlich, in Worten zu äußern, ohne zu sprechen, schweigsam"! Das Gebärden (nicht die Gebärden) ist auch physisch und ist auch Reden. Die Gebärden werden auch geäussert und sind auch Worte. Damit kann man auch schweigsam sein. Es gibt sogar Leute, die “der fähigkeit der GS physisch ermangeln”. Also nichtgebärdende Hörende sind auch stumm!
Aber absurd bin ich nicht. Da sieht man, wenn man das Augenmerk im allgemeinen Sprachgebrauch zu sehr auf den physischen Vorgang legt, wie unnötig diese Bedeutungseinschränkung ist. Für den allgemeinen Sprachgebrauch soll doch Kommunikation wichtiger als wie man physisch kommuniziert sein. Letztendlich hoffe ich, das Wort ’stumm’ wird langsam obsolet (= nicht mehr zeitgemäss), weil unnütz.
Aber Pnin zeigt auf, dass ’sprachlos’ und ’kommunikationsunfähig’ nicht deckungsgleich in Bedeutung sind, mit dem ich übereinstimme. Man kann ohne Sprache kommunizieren durch Bilder, Gesten und Pantomime, jedoch aber beschränkt. Und ’kommunikationsunfähig’ ist nicht gleich “verblüfft, entsetzt”, aber kann diese Bedeutung erlangen, weil es genauer ist und man leicht an den (momentären) Verlust, irgendwie zu kommunizieren, denken kann. Der Begriff ’sprachlos’ wird auch im Sinne von “einer Sprache nicht habend” von Pädagogen und CI-Ärzten gebraucht (“Möchten Sie nicht, dass Ihre [tauben] Kinder ein sprachloses Leben (oder ein Leben in Stummheit) führen?”, “sprachlos (oder stumm) ins Leben entlassen”, “[…] werden sprachlos, wenn sie weder LS noch GS erwerben.”). Der letzte Beispielsatz beinhaltet die Tatsache, dass taube Kinder deswegen sprachlos werden können, wenn sie einsam unter nichtgebärdenden Hörenden leben und nie GS zu sehen bekommen. Sprachlosigkeit führt zur Kommunikationsunfähigkeit, weil der Gebrauch der Gesten in der audistischen Umgebung sich verkümmern kann. Stumm werden sie auch genannt. In diesem Sinn werden beide Wörter bedeutungsgleich und auch synonimisch zu ’stumm’.
Was die Wörter bedeuten, hängt alles ab vom Sprachgebrauch und der Mentalität der Sprachbenutzer. Ich versuche nur aufzuzeigen, dass das Wort ’stumm’ Assoziationen (= Gedankenverbindungen) mit Sprachlosigkeit, Dummheit und Kommunikationsunfähigkeit hervorruft, natürlich nicht bei jeden. Das entspricht unserer Erfahrungen. Man ist stumm, also “keiner Sprache habend” = sprachlos, also dumm, dann basta, mit ihm kann man nicht kommunizieren, wie Deafmax eben auch sagt. Dies aufgrund der oben beschriebenen Mentalität über Sprache, Sprechen und Kommunikation und der im Unterbewusstsein schwelende Auffassung, dass Sprache nur Lautsprache sei und alle nicht-dumme Menschen sprechen können müssten. Der Ausdruck ’kommunikationsunfähig’ ist relativ neu, folgend der Lenkung der Aufmerksamkeit auf Kommunikation weg von (vokalem) Sprechen.
Einige hörende Users im Taubenschlag-Forum haben dieses emanzipatorische Gedankengut schon zu sich eigen gemacht, was ich sehr begrüsse. Pnin, du siehst die Entwicklung zu pessimistisch an, als du oben von der Euphemismus-Tretmühle schreibst.
Pnin, du kannst dir deinen Ausflug in die englische Sprache sparen. Man braucht mehr Erfahrung in der Sprache, um die semantischen Feinheiten im Gebrauch von ‘mute’, ‘dumb’ und deren Synonymen auszuloten. Nicht nur Definitionen aus den Wörterbuchern herausfischen! Wie du bereits angibst, wird ‘mute’ ähnlich wie ‘stumm’ auch für Sprachlosigkeit, Kommunikationsunfähigkeit und Stille verwendet.
@Deafmax,
Es gilt hervorzuheben,
1. Die Sprache ist nicht nur Lautsprache, sondern auch Gebärdensprache.
2. Kommunikation soll hervorgehoben werden, nicht Sprechfähigkeit.
3. Ob die Sprache mit dem Mund oder mit den Händen ausgeführt wird, soll unwesentlich im allgemeinen Diskurs (= Gedankenaustausch, gutbedachte Gespräche) bleiben und nur erwähnt werden, wenn wesentlich.
4. Taube Menschen sind nicht stumm, auch wenn sie nicht mit dem Mund sprechen können, weil sie kommunizieren können.
Hat man dieses Gedankengut einverleibt, dann werden Vorurteile gegen taube Menschen wegen “Stummheit” abgebaut. Das Wort ’stumm’ wird hoffentlich obsolet, weil man wirklich nie sprachlich stumm ist. Momentär stumm oder sprachlos wird auch für den Nichtgebrauch der GS gelten.
Was ist so radikal in diesen Gedanken? Also wieso “Taub-Radikalisierung” des Begriffs ’stumm’? Das Wort wird bereits übertragen gebraucht, das wir uns zunutze machen.
Hartmut
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