@Deafmax,
um die Frage zu beantworten, ob das Mitsprechen deutscher Wörter beim Gebärden mit dem zusammenhängt, wie "gefestigt" die GS strukturiert ist, möchte ich mich zuerst im Klaren stellen, was "gefestigte Struktur" bedeutet. Wird damit die feste Wortfolge im Gebärdensatz gemeint? Oder das Vorhandensein bestimmter Regel (das ist ja was Grammatik ist)?
Deafmax denkt wahrscheinlich nur an die Regelung, in welcher Reihenfolge(n) die Gebärden im Satz grammatisch sind und alle andere Wortfolgen als ungrammatisch gelten. Und er vermutet, es würde weniger mitgesprochen, wenn die Reihenfolge der Gebärden im Satz festgelegt wäre. Das heisst, wenn zu viele Möglichkeiten in der Wortfolge bestehen, wird häufiger mitgesprochen, wenn nur eine oder zwei Möglichkeiten, dann wird nicht oder nur wenig mitgesprochen. Wird seine Vermutung bestätigen?
Für einen Satz mit drei Gebärden, die sechs mögliche Reihenfolgen liefert, dachte Deafmax, dass vier davon gut seien. Aber Hans Busch bot an, dass alle sechs Folgen möglicherweise grammatisch seien. In diesem Fall spricht man von "freier Wortfolge".
Es gibt Lautsprachen, wo die Wortfolge im Satz frei oder fast frei ist (Latein, Warlpiri (Australien)). Einige Sprachen haben beschränkte freie Wortfolgen, während andere nur eine oder zwei festgelegten Folgen im Satz erlauben (English, Französisch). Deutsch hat freiere Wortfolge als Englisch. Gebärdensprachen sind zumeistens viel freier als Lautsprachen. Also wird es niemanden überraschen, dass mit drei Komponenten Subjekt S, Verb V und Objekt O sechs Folgen in der GS grammatisch erlaubt sind: SVO, SOV, VSO, VOS, OSV und OVS. Aber das braucht nicht unbedingt bei jedem Verb zutreffen.
Ich halte dagegen, dass das Mitsprechen unabhängig von wie frei die Wortfolge im Satz ist. Also kein Zusammenhang von Wortfolge–Freiheit und Mitsprechen. ASL und andere GSen, wie DGS, ÖGS usw. haben freiere Wortfolgen. Es wird trotzdem weniger in ASL mitgesprochen als in DGS. Ich stelle bei mir fest, dass ich Englisch mitsprechen würde, wenn der ASL-Satz die SVO-Folge hat und Adjektiv vor ein Hauptwort steht, also strukturell ähnlich dem Englischen sei. Wenn unähnlich, dann wird das Mitsprechen unterlassen oder nur bei einer Gebärde gemacht, und dies nur soweit wenn das Wort und die Gebärde beide bedeutungsgleich sind.
Aber ich sehe einen möglichen Zusammenhang zwischen Mitsprechen und dem Reichtum der Morphologie von GS. Morphologie in den Gebärden heisst, eine Gebärde in Bedeutungsteilen zerlegen oder eine komplexe Gebärde aus Bedeutungsteilen aufbauen, z.B. die Gebärde mit der Bedeutung “schnell über die Brücke gehen” ist mit folgenden sechs(!) Teilen aufgebaut: die zwei Klassifikator-Handformen fuer “Brücke” und “Zwei Beine”, Verbstem “Schritte machen”, Lokation “über die Brücke”, die Richtung “von einer zur anderen Ende”, und Verbstemabwandlung “schnell laufen”. Linguisten sprechen von "Reichtum der Morphologie", also wieviel Bestandteile ein Wort hat. GSen sind immer reich in Morphologie. Chinesisch und Vietnamesisch dagegen sind arm in Morphologie, denn jedes Wort in diesen Sprachen besteht nur aus einem Bedeutungsteil. Ihre Wörter können nicht für Mehrzahl oder Vergangenheit gebeugt werden. Für Mehrzahl muss man in Chinesisch ein Zahlwort oder “viel” oder “wenig” dazu nehmen. Die Sprachen der Indianer und Eskimos sind sehr reich in Morphologie, wie die GSen. Wenn eine Gebärde schwer mit kleinen Teilen geladen ist, wird es schwer sein, das dazugehörige Wort mitzusprechen. Andererseits, wenn nur aus einem Bestandteil, dann wird das Wort unschwer mitgesprochen, was oft geschieht.
Ein Umstand, was das Mitsprechen fördert, liegt im Vokabular. Es gibt eine Anzahl von Gebärden in DGS, die ein weites Bedeutungsfeld umfasst, wie Wochentage, Monate, Verwaltung/Regierung, Politik/Technik, Bruder/Schwester usw. Man ist “gezwungen”, das Wort zur Verdeutlichung auszusprechen. ASL hat ein “grösseres” Vokabular. Für die eben genannten Bedeutungsfelder hat ASL unterschiedliche Zeichen.
Das Mitsprechen geschieht bekannterweise häufig beim gebärdeten Deutsch, gebärdeten Englisch usw. Wenn eine taube Person “gebildet” ist, heisst es oft, dass sie auch zweisprachig ist und zwar unterschiedlich gut. Sie würde dann Deutsch mit den Händen und dem Mund sprechen, wenn sie gerade auf Deutsch denkt. Viele taube Schüler haben eine monolinguale Erziehung erfahren, ihr Deutsch oft unvollkommen (ungrammatisch, kleiner Wortschatz) und ihre GS ist oft unvollkommen, da sie selten fliessende erwachsene Benutzer als sprachliche Vorbilder zu sehen bekommen. Also gebärden sie halb Deutsch und halb DGS und sprechen Deutsch ungrammatisch mit. Sie müssen sich von ihrer sprachlichen Angewohnheiten loslösen im Umgang mit erwachsenen GS-Benutzern und ihre GS wird reiner. Das Mitsprechen wird weniger.
Ueber den Satz mit ICH ARBEITEN COMPUTER werde ich ein neues Thread öffnen.
Hartmut
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