Von Otto Friedrich Kruse (1801-1880) kenne ich einige Zitaten:
Oralismus versucht die Taubstummennatur aus dem Taubstummen auszumerzen.
Oder
Oralismus ist ein Wurzelziehen der Taubstummennatur aus dem Taubstummen.
Geberdensprache liefert Prosa dem Geist und Poesie dem Herzen.
[Autob., S.35]
Man kann nicht oft genug wiederholen: Erhebe die Lautsprache
nicht über die Gebühr! [handschriftlicher Reisebericht, 1853]
Uneinsichtige Oralisten sind Philister, die nur von den
Prinzipien ihrer ausgesuchten Wissenschaft das Heil erwarten.
["Vermittlung...", S.19]
Über den Besuch einer oralen Schule in Vorpommern:
"Alle Zeit, alle Mühe und Anstrengung wurden darauf verwandt, den Taubstummen die Riegelthür des Mundes aufzuthun. Der eigentliche Sprachunterricht hing am Nagel."
Dann einige Zeilen unten:
"Ich legte ihnen schriftliche Fragen vor, die sie mir wieder schriftlich beantworten sollten. Die leichtesten Fragen verstanden sie, obgleich sie in der obersten Classe saßen, nicht. Indem ich Zeichen hinzufügte, gaben sie zwar Antworten, aber mit einer Zusammensetzung von Wörtern oder in einer Construction, die außer Taubstummen wohl Niemand verstände und welche gar keinen Wortsinn hatten. Sie hatten wiederkauen gelernt, was ihnen der Lehrer vorgekaut hatte." [Autob., S.98]
Die Gebärdensprache ist das wahre Rüstzeug des geistigen Lebens
des Taubstummen. ["Über Taubstumme ...", 1853, S.183]
Eine Erziehung [im reinen Oralismus], welche das Kind dem
heimathlichen Geistesleben entreisst und dafür Treibhäuser baut,
zieht auch nur Zierpflanzen auf, schwerlich aber kerngesunde
Bäume. [Autob., S.147]
Die Zeichen der Geberdensprache sind keine ersonnene, oder durch
Verabredung entstandene, nein, Alles [Bemerkung: wirklich nicht alles! HT] ist ein unmittelbarer Ausdruck der Natur und daher charakteristisch, und allgemein verständlich. Wie der Taubstumme die erhaltenen Eindrücke durch seine Sprache wiedergiebt, so mischt sich ganz unvermerkt das
Spiel der Empfindungen und Gefühle in seine Zeichensprache und
verleiht eben dadurch derselben den wahren Ausdruck der Gedanken.
Ohne im Mindestens um die Zeichen verlegen zu sein, drückt er
seinen Schmerz, seine Freude, seinen Zweifel, sein Befremden,
seine Bewunderung u.s.w. auf eine natürliche Weise aus, daß der
ganze Act der Handlung nicht leicht einem Mißverständnisse
unterliege. Dabei ist die Geberde so biegsam, daß ein Jeder sie
seiner Individualität, seiner eigenthümlichen Anschauungs- und
Denkweise anpassen kann, ohne daß selbst die verschiedenartigsten
Ausdrücke für eine und die nemliche Sache unverständlich werden
können. ["Über Taubstumme ...", 1853, S.184]
Übrigens ist die Geberde eine selbstständige, in und für sich
begrenzte Sprache, deren reeller Werth nicht nach dem Maßstabe
der Wortsprache beurtheilt werden kann. Das Streben, sie der
Wortsprache so viel wie möglich zu näheren, oder ihr wenigstens
eine derselben analoge, und gewissermaßen dieselbe
stellvertretende Form angedeihen zu lassen, verriethe eine
gänzliche Unkunde ihrer Natur und ihres Wesens, wäre ein
Todtschlag an der Muttersprache des Taubstummen und an seinem
geistigen Leben. Man sollte im Gegentheil meinen, daß sie im
Grade vollkommen wird, als sie von den Einflüssen der Wortsprache
frei gehalten wird, und als man der Natur den völligen, freien
Lauf läßt. Am besten kann sie daher von einer Gesellschaft der
Taubstummen ausgebildet werden, und die höchste Stufe der
Vollkommenheit erreicht sie sicher in denjenigen Instituten, wo
sie noch in hohen Ehren gehalten wird. ["Über Taubstumme ...",
1853, S.184 185]
Die Artikulation ist dem Taubstummen fürs Erste noch eine
unverdauliche Kost, die er nur gezwungen aufnimmt. ["Lehrbuch
...", S.15]
Die Geberdensprache ist die lebensvollste Darstellung, malet
selbst die Empfindungen und Gefühle der Seele aufs Treffendste
und kann daher hinreißend werden; sie ist voll Natur und
Wahrheit, ist die unmittelbarste Anschauung und kann den Lehrer
am besten unterstützen. ["Lehrbuch ...", S.15].
Hat man es wohl bedacht, was es heißt, die Geberdensprache vom
Unterrichte und vom geistigen Leben des Taubstummen selbst
ausschließen? Das hieße doch nicht anders, als ihm den Fittig des
Geistes abschneiden, hieße das geistige Leben in sich selbst
verkümmern lassen. ["Lehrbuch ...", S.16].
Die Geberde ist das Urelement des geistigen Lebens des
Taubstummen, an sie schließt sich daher nothwendig jedwede
Begriffsentwickelung, und in und mit ihr geht auch das Wort mehr
oder weniger auf. ["Lehrbuch ...", S.15].
Übrigens muß die Zeichensprache als eine selbstständige Sprache
betrachtet werden, welche dazu ihre besonderen Eigenthümlichkeiten
hat, und daher weniger eine wörtliche Übersetzung verträgt, als
die eine Wortsprache die wörtliche Übertragung aus einer anderen
verstattet. ["Lehrbuch ...", S.65].
Darf es eine Erziehung wohl bis zur völligen Verleugnung der
Taubstummennatur, bis zur gänzlichen Ausmerzung des Taubstummen
aus dem Taubstummen kommen lassen? Es geht uns wie der
geschäftigen Martha: wir machen uns viel Sorge und Mühe und
vergessen das Eine, was Noth thut, das gesunde Menschenthum,
dessen wir vor allen Dingen pflegen und warten sollen.
["Vermittlung...", S.26]
Die Geberdensprache ist für Taubstumme eine absolut nothwendige
Brücke, um an das jenseitige abgeschiedene Land der Wortsprache
gelangen zu können, aber man übersehe es auch nicht auch nur
eine Nothbrücke, welche von den Lehrern der Kinder mit Vorsicht
und Behutsamkeit und mit der ganzen Routine eines Fährmannes
überschritten werden muß. ["Vermittlung...", S.30]
Die Geberdensprache ist das wahre Rüstzeug des geistigen Lebens
des Taubstummen. ... Die Geberde ist des Taubstummen geistige
Heimath, die er selten verläßt, ohne dabei zugleich geistig zu
verkümmern. [Ueber Taubstumme,...", S.184, 185]
Die Geberde ist, weil sie des Taubstummen wahres geistiges
Element ist, sein völliges Leben, seine Gesundheit, die
Rührigkeit und Geschäftigkeit seines Geistes, seine
Gemüthlichkeit, und seine gute Laune. Sie ist seine geistige
Heimath, die er selten verläßt, ohne dabei zugleich geistig zu
verkümmern. Bände man ihm die Arme und Hände, so gestikulirt er
schon im Gedanken damit oder gar mit Füßen." ["Über Taubstumme
...", 1853, S.185]
Auch schränkt sich der Werth der Geberdensprache nicht auf den
ersten, oder den Elementarunterricht ein, sondern dehnt sich über
die ganze Schulbildung aus, weil der Unterricht, wenn der Schüler
auch endlich des Wortes einigermaen mächtig geworden ist, doch
lange nicht ihrer Vermittelung entbehren könnte. Auch in manchen
Fällen, abgesehen davon, da nicht alle die erforderliche Stufe
der Sprachbildung können erreichen, ist und bleibt die
Geberdensprache die einzige Nothanker für die Unglücklichen.
["Über Taubstumme ...", 1853, S.185]
Die Schrift, aber nicht die Lautsprache sei der geistige Hebel
des Sprachunterrichts, indem die erstere mehr geeignet sei, das
flüchtige Wort zu fixiren, und es dem Taubstummen mit seinen
mannichfachen Formen, Beziehungen, Verhältnissen, Verbindungen
und Veränderungen näher vor die Augen zu führen; nur fleißiges
Schreiben und Lesen ersetzen ihm den vielfachen Verkehr, durch
welchen das hörendsprechende Kind in das Wesen der Sprache
eingeführt wird. Die Zeichen- und Lautsprache thun zur Sache
weiter nichts, als daß die erstere zur Erklärung der zu
entwickelnden Begriffe zu Hülfe kommen müsse, die letztere aber
den Uebergang des Denkens in Form der Wortsprache erleichtere und
fördere. Die Sprache sei ein Product unmittelbarer Uebung, je
reicheren und mannichfacheren Stoff das Leben für die
schriftliche Uebung bietet, desto besser gehe die Cultur der
Sprache von Statten. Zwar müssen alle Kinder von vornherein
sprechen, so weit es ihre Organe zulassen, damit sie sich die
Wörter, besonders den orthographischen Bau derselben leichter und
fester ins Gedächtniß einprägen können, indeß bedürfe es der
sorgfältigeren und fortgehenden Cultur der Lautsprache nur bei
denjenigen, welche der Sprache einigermaßen mächtig geworden
sind; bei den der Sprache weniger fähigen Subjecten seien Hopfen
und Malz verloren.
Ein großes Vortheil für die Sache der Taubstummenbildung [ist]
das Zusammenwirken eines hörenden und tauben Lehrers. Wenn der
hörende Lehrer Gefahr läuft, beim Unterricht der Taubstummen
einseitig die allgemeinen Bedürfnisse zu vertreten, so hält
dagegen der taube Lehrer die Grundbedingnise der Taubstummennatur
aufrecht und durch Ausgleich und Austausch der Ideen kann der
Sache ein erprießlicher Dienst geleistet werden. [Autob., S.103]
Ich muß gestehen, daß ich mit einer sehr geringen Erwartung nach
Paris gekommen war, aber überrascht wurde durch das, was ich mit
eigenen Augen sah. Die Pariser Taubstummen Anstalt steht gewiß
den vorzüglichsten der Art in Deutschland nicht nach. Was aber
hier vor allen Dingen hervorgehoben zu werden verdient, ist mit
welcher großen Gewandtheit, Fertigkeit, Behendigkeit und
Schnelligkeit die Zöglinge der Pariser Taubstummen Anstalt die
ihnen aufgegebenen Gedanken auf's Tapet zu bringen verstehen, wie
ich es in keiner andern von mir besuchten Anstalt gesehen habe.
[Autob., S.138]
Hartmut
Zuletzt geändert von Hartmut am 01.05.2005, 17:20:02, insgesamt 4-mal geändert.
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