We have a dream …
Sommer 2012
„Heute ist mein erster Tag im neuen Kindergarten. Mama wirft mir zum Abschied noch tausend Gebärdenküsse zu. Angst habe ich nicht, denn hier wissen alle Bescheid, und die Erzieherin kann fast so gut gebärden wie Mama. Mama und Papa haben sich schon erschrocken, als sie hörten, dass ich nichts höre, aber ein netter Arzt hat ihnen ganz viel erzählt und dann haben sie einfach eine neue Sprache gelernt. Mein kleiner Bruder kann auch schon mit den Händen sprechen, obwohl er noch nicht mal alleine stehen kann. Morgen kommt unser Babysitter. Sie hat in der Schule meine Sprache gelernt, und deshalb können wir besonders
viel Quatsch machen. Aber manchmal, da braucht man gar nicht zu sprechen, da verstehen wir uns auch so.“
Man staune, was es in der Zukunft alles geben wird:
Gebärdensprache ist visuell-gestisch und daher für gehörlose Kinder barrierefrei wahrnehmbar. Mit dieser Voraussetzung wachsen sie von Beginn an bilingual mit Gebärden- und Lautsprache
auf.
Keine Zweifel, kein „Methodenstreit“, denn jedem ist klar: Erst voller Zugang zur Sprache ermöglicht vollen Zugang zur Bildung.
Vor allem aber steht Sprache den Kindern in den verschiedensten
Formen und Funktionen zur Verfügung.
Gebärdensprache wird so ganz nebenbei auch für alle diejenigen
eine Bereicherung, die bisher noch nicht um ihren Wert wussten.
Mütter gebärden mit ihren Babys, lange bevor diese mit den Mündern plappern können, und fördern damit deren allgemeine
Sprachentwicklung.
Studien zeigen schon heute den positiven Einfluss des Lernens einer Gebärdensprache auf hörende Kinder und ihre kognitive Fähigkeiten und ermutigen Schulen, diese Sprache als Fremdsprache
einzuführen.
Und so ganz nebenbei verliert die hörende Mehrheitsgesellschaft
ihre Angst vor dem „anderen“, welches als fremd erschien.
Zu visionär? Wir können uns eine Gesellschaft vorstellen, in der sich ein Kind mit besonderen Bedürfnissen nicht an seine Umwelt anpassen muss, sondern in der wir die Möglichkeiten schaffen, in der dieses Kind auch Kind sein kann.
du triffst in den Medien auf schöne Versprechungen:
Das CI sei ein „Implantat, mit dem die Taubheit aus unserer Gesellschaft
verschwinden kann.“ Und die „[...] mit einem künstlichen
Gehör ausgestatteten Kleinkinder unterscheiden sich dann in ihrer Sprachentwicklung nicht im Geringsten von normal
hörenden Kindern.“ (Rückert 2004)
„Über 60.000 gehörlose Menschen sind inzwischen weltweit mit einem CI versorgt worden. Der überwiegende Teil davon sind prälingual ertaubte Kinder. Gerade von der Entwicklung der Kinder wurde und wird Großartiges erwartet. Gehörlose Kinder können hören lernen und vor allem eine nahezu natürliche
Lautsprachentwicklung nehmen.“ (Diller/Graser 2005)
„Taub geboren, nach Hirnhautentzündung ertaubt, durch mehrere
Hörstürze das Gehör verloren. Verlust der üblichen Kommunikationsfähigkeit
(wer versteht Gebärdensprache?). Hohe Kosten für die Gesellschaft. Psychische und soziale Folgen. Die Lust am Leben verloren. – So, oder so ähnlich verlief das Schicksal
vieler Menschen, die gehörlos sind und denen das klassische Hörgerät keine Hilfe brachte. Doch diese Zeiten sind längst vorbei.
Das Cochlea (=Innenohr) Implantat ist mehr als nur die Weiterentwicklung
eines Hörgerätes. Es ist eine elektrisch betriebene
Innenohr-Prothese, die die Funktion des vollständig ausgefallenen
Innenohrs, der häufigsten Form der Gehörlosigkeit / Ertaubung, übernimmt. Damit ist das Cochlea Implantat die erste routinemäßig eingesetzte Sinnesprothese.“ (
http://www.ci-centrum.de/CI-Info/ci/CIInfoblatt2.htm)
„Dank ihres verbesserten Hörvermögens fühlen sich […] Benutzer
nach der Implantation weniger einsam, sicherer im Umgang
mit ihren Mitmenschen und unabhängiger als vor der Implantation.
Die zwischenmenschliche Kommunikationsfähigkeit
und das Selbstvertrauen im Umgang mit anderen nehmen zu, und bei längerer Implantatnutzung sind außerdem harmonischere
... du kannst was tun:
Als wir angefangen haben, uns mit dieser Thematik zu beschäftigen,
hat uns die inhaltliche Komplexität fast überfordert. Wir sind einer tiefer gehenden Auseinandersetzung eine Weile ausgewichen,
indem wir schlichtweg immer einem Pro-Argument ein Kontra-Argument gegenübergestellt haben. Wir mussten oder durften im Laufe der Diskussion aber feststellen, dass es darum nicht gehen kann, sondern dass es vielmehr wichtig ist, sich als Persönlichkeit diesem vielfältigen Themenkomplex zu stellen, der, wenn man ihn genauer betrachtet, viele Lebensbereiche
berührt, die uns alle angehen.
Vielleicht ist es in erster Linie diese Art von „Tun“, derer es bei dieser Grundsatzthematik bedarf. Nicht oberflächliche Diskussionen,
ob ein Kind mit CI schwimmen kann oder nicht, sondern
eine gut durchdachte, auch ethische Fundierung der eigenen
Meinung.
In diesem Prozess der Meinungsbildung ist es sicherlich hilfreich,
sich Fachwissen anzueignen. Ein nicht zu unterschätzender
Wert ist aber auch, sich immer wieder mit betroffenen Menschen auseinander zu setzen und deren Perspektive kennen
zu lernen. Aber auch der Austausch mit Personen, die nicht betroffen oder nicht fachlich gebildet sind, kann einen in der eigenen
Meinungsbildung weiterbringen.
Bleib nicht stecken im Schlagabtausch von Argument, Gegenargument
und Rechtfertigung. Bring mit Kreativität das vor und voran, was du als richtig erkannt hast.
Wir erheben Einspruch!
Uns ist bekannt, dass Gehörlose nicht als kranke Individuen medizinisch verarztet werden wollen. Sie definieren sich als Gemeinschaft mit einer eigenen Sprache, der Gebärdensprache.
Soziale Kontakte sind nicht an die Ohren gekoppelt, sondern
viel mehr an Sprache und darüber verfügt die Gebärdensprachgemeinschaft.
CI-Operationen sind keine lebensnotwendigen Operationen, bergen aber wie jede Operation mit Vollnarkose erhebliche Risiken.
Aus technischen oder medizinischen Gründen droht die Gefahr mehrfacher Reimplantationen. Im Anschluss an die erste
Operation folgt ein langjähriges Trainingsprogramm, das sich einseitig auf Hörtraining und Lautspracherwerb konzentriert.
Die Rehabilitationsmaßnahmen sind nicht nur anstrengend
und zeitintensiv für das implantierte Kind, sondern bedeuten
auch den zwangsweisen Verzicht auf eine alle Sinne einbeziehende,
psychosoziale und sprachliche Förderung. Die Beziehungen
innerhalb der Familie werden belastet durch die Konzentration
auf die täglichen Übungen.
Ein weiteres schwerwiegendes Risiko ist, dass die meisten der implantierten Kinder nie in den vollen Besitz einer Sprache kommen werden, sofern sie keine Möglichkeit hatten Gebärdensprache
zu erwerben, denn „Kinder mit CI bleiben hörgeschädigt!“
(Diller / Graser 2005)
Nachdenklich stimmen uns auch die Folgen für die Identitätsentwicklung
der Kinder mit Implantat. Die Operationen und das anstrengende Sprachtraining vermitteln dem Kind das
Gefühl anders werden zu müssen, als es ist. Eine Implantation ist bei Weitem keine Garantie auf ein besseres Leben.